Das Märchen von der Dominanz
“Wenn du ihn gewinnen lässt, wird er dominant. Und das kann bei der Größe und dem Gewicht fatal werden.“
Das wurde mir auf dem Hundeplatz von einem der Trainer gesagt, als ich mit meinem 48kg-Berner-Sennen-Mix Balou ein Zerrspiel machte.
Also ließ ich ihn nie gewinnen und nahm das Zerrtau immer an mich.
Irgendwann spielte mein Hund nicht mehr mit mir.
Warum auch?
Wer hat denn noch Spaß am Spiel, wenn er ständig verliert?
Inzwischen weiß ich, dass das Gewinnen lassen beim Spiel absolut nichts mit Dominanz zu tun hat. Und dass ein Hund nach allem Möglichen strebt, aber sicher nicht nach der Weltherrschaft.
Inhalt
Was ist Dominanz überhaupt?
In der Genetik ist Dominanz ein vorherrschendes Merkmal, das sich entsprechend weitervererbt. Kennst du vielleicht noch aus dem Biologieunterricht mit den gelben, grünen, runden und schrumpeligen Erbsen. 😉
In der Psychologie ist es der Wunsch, das Verhalten anderer zu beherrschen oder zu kontrollieren. Der Ausdruck “Alpha-Männchen“ sagt dir sicher was. 😁
Und das ist auch das Verhalten, welches einem Hund unterstellt wird, wenn wir sagen: “Der ist aber dominant.“
Bekannterweise braucht es zum Dominieren ein Gegenüber, das sich dominieren lässt. Im Fall unserer Hunde ist das meist ein Artgenosse oder ein Mensch.
Und während wir dieses sogenannte Verhalten gegenüber Artgenossen vielleicht noch mit einem leicht zufriedenen Lächeln wahrnehmen (“Boah, hab ich ‘nen selbstbewussten Hund.“), ist es uns selbst gegenüber eher unangenehm (“Wer hat denn hier jetzt das Sagen?!“)
Es gibt zwei Arten der Dominanz: die formale und die situative
Bei der formalen Dominanz geht es um das Vermitteln von Schutz und Geborgenheit. Und ich glaube wir sind uns einig, dass dies definitiv Sache des Hundehalters ist.
Bei der situativen Dominanz geht es um Ressourcen - Futter, Spielzeug, Begrüßen des Besuchs, etc. - bzw. den Wettbewerb darum.
Wenn dein Hund also vor dir an der Tür ist, wenn es klingelt, hat das nicht wirklich was mit Dominanz zu tun, sondern mit wettbewerbsbezogenem Durchsetzen.
(Oder mit Geschwindigkeit 😉)
Fällt dir etwas auf?
Beide Arten unterscheiden sich recht stark von dem, was wir unter Dominanz verstehen.
Sind unsere Hunde vielleicht gar nicht dominant in diesem Sinne?
Aber was ist dann mit Alpha, Omega und Co.?
Ich Alpha - du nix
Oft wird Hundebesitzern suggeriert, sie müssten die “Alpha-Rolle“ in der Mensch-Hund-Beziehung übernehmen und ihrem Vierbeiner so richtig zeigen, wo es langgeht, damit er ihnen nicht auf der Nase herumtanzt.
Dann werden Handlungen empfohlen wie
das Futter wegnehmen.
Hierbei wird dem Hund - nachdem er angefangen hat, zu fressen - das Futter vor der Nase weggenommen, um zu beweisen, dass man als Mensch am längeren Hebel sitzt und sich ihm gegenüber alles erlauben kann.
Allerdings ist das keine Erziehung oder Klarstellung der Rangordnung, sondern reines Dominanzgehabe seitens des Menschen.
Du bist als Hundehalter für das Wohlergehen und damit auch das Füttern deines Hundes zuständig. Warum solltest du ihm also wegnehmen, was du ihm gegeben hast?der Alpha-Wurf.
Hierbei wird der Hund meist mit einem kurzen Griff in den Nacken auf den Rücken geworfen. Dies soll ihn in eine unterwürfige Haltung bringen, um ihm dann klarzumachen, dass der Halter ranghöher ist als er.
Allerdings tut das kein Hund mit seinem Artgenossen, und auch bei den Wölfen, die so gerne als Beispiel herangezogen werden (siehe unten), kommt so etwas definitiv nicht vor.
Im Mensch-Hund-Gefüge zerstört so eine Aktion - wie jede gewaltsame Vorgehensweise - nachhaltig das Vertrauen.der Schnauz(en)griff.
Hierbei wird dem Hund mit einer Hand von oben über die Schnauze gegriffen, um ihn zu reglementieren.
Argumentiert wird damit, dass die Mutter dies bei ihren Welpen auch tut, um sie zu maßregeln.
Unabhängig davon, dass der Hundebesitzer nicht die Rolle der Hundemutter innehat, nimmt diese die Schnauze sehr sanft in ihr Maul. Der Hundebesitzer greift hingegen eher fest zu und verursacht bei seinem Vierbeiner dadurch Schmerzen.
Dass dies definitiv kein Vertrauen aufbaut, erklärt sich von selbst.und manchmal sogar das Nackenschütteln.
Hierbei wird der Hund im Nacken gepackt und geschüttelt, um ihn zu reglementieren.
ACHTUNG: Das Nackenschütteln ist tierschutzrelevant. Und das mit gutem Recht. Denn auf diese Art und Weise schüttelt der Hund seine Beute tot. Wenn das also bei ihm gemacht wird, hat er Todesangst und einigen Hunden blieb dabei tatsächlich schon das Herz stehen.
All diese Aktionen sind unangemessen und haben in einer Mensch-Hund-Beziehung absolut nichts verloren, denn diese sollte auf Vertrauen basieren. Und in einer vertrauensvollen Beziehung bedarf es keines Alphas in diesem Sinne.
Ein Hund ist ein soziales Wesen, dass sich sehr gut in Familienverbände einordnen kann, wenn es ihm entsprechend vorgelebt wird.
Er muss mit seinem Menschen keine Rangfolge aushandeln, denn er hat gar kein Interesse daran, “Alpha“ zu sein.
Aber Wölfe machen das doch auch
Auch das wird Hundebesitzern gerne erzählt, unter anderem um die obigen “Erziehungsmethoden“ zu rechtfertigen.
Nur sollte hier genau zwischen freilebenden Wölfen und Gehegewölfen unterschieden werden.
Freilebende Wölfe
sind Familienverbände, die aus den Elterntieren und ihrem Nachwuchs bestehen.
Die Eltern sorgen für ihre Kleinen und übernehmen ihnen gegenüber ganz natürlich die Führungsrolle.
Die einjährigen Wölfe sind an der Betreuung der Welpen sowie an der gemeinsamen Jagd und an der Verteidigung des Reviers beteiligt. Bei diesen Handlungen übernehmen zeitweise auch andere Rudelmitglieder Führungsaufgaben.
Die zweijährigen Tiere wandern - nachdem sie geschlechtsreif sind – ab und gründen ihre eigene Familie.
Rangordungskämpfe gibt es hier nicht, da sie schlicht und ergreifend nicht nötig sind. Die soziale Struktur ist klar geregelt, wie bei einer Menschenfamilie auch.
Bei Gehegewölfen,
die gerne als Beispiel für hündisches Verhalten herangezogen werden, sieht das etwas anders aus.
Da sie in Gefangenschaft leben, können die Jungtiere nicht abwandern, wenn sie die Geschlechtsreife erreicht haben. Und damit es nicht zur Inzucht kommt, werden nicht verwandte Tiere in das Rudel integriert.
Somit handelt es sich hier nicht um einen Familienverband, sondern um einen bunt zusammengewürfelten Haufen, der unter natürlichen Umständen niemals gemeinsam in einem Gebiet leben würde.
Dies führt zu hohem Stress und in der Folge zu Rangordnungskämpfen, die nicht selten sehr aggressiv ablaufen.
Und ja, hier gibt es tatsächlich ein dominantes Alphatier, das an der Spitze steht - gefolgt von Beta bis Omega (dem Prügelknaben).
Aber diese Konstellation hat genauso wenig mit natürlichem Verhalten zu tun, wie das von Löwen im Zoo.
Wenn also Wölfe als Beispiel für hündisches Sozialverhalten herangezogen werden, dann doch eher die freilebenden - auch wenn sie so gar nicht ins menschengemachte Alpha- und Dominanzschema passen. 🤓
Souveränität, Orientierung und Verständnis
Dein Hund will weder Alpha sein noch strebt er nach der Weltherrschaft.
Er will sich einfach nur vertrauensvoll in eine Familienstruktur (das können auch „nur“ ein Mensch und ein Hund sein) hineinentspannen.
Alles, was er dazu braucht, sind Souveränität und Orientierung seitens seines Menschen. Und dessen Verständnis für seine Körpersprache und Signale.
Denn Missverständnisse bezüglich angeblicher hündischer Dominanz entstehen meist, wenn der Mensch die Signale seines Hundes als “Angriff auf seinen Rang“ fehlinterpretiert.
Es wird also höchste Zeit, alte Zöpfe abzuschneiden und den Hund als das zu sehen, was er ist: Ein Familienmitglied, von dem der Mensch sehr viel lernen kann. Vor allem im Bereich Sozialverhalten.
Und wenn du ihn beim Spielen auch gewinnen lässt, habt ihr beide Spaß dabei und stärkt eure Beziehung. 😊